Bundestagswahl 2017 – Das wird uns noch lange beschäftigen

Als die ersten Prognosen bekannt waren, sprachen am Abend der Bundestagswahl 2017 die ersten Chronisten, Experten und Parteimitglieder von einer Zäsur. Der Bundestag indes wird größer denn je. Die politische Kultur wird sich verändern. Eine erste Analyse.

18 Uhr, der Gong ertönt und die Prognosen werden bekannt gegeben. Ganz Deutschland schaut gebannt auf die Bildschirme und schon beim ersten Balken wird klar, dieses Ergebnis bedeutet einen Einschnitt in der Geschichte des Deutschen Bundestags. Die Union kommt auf gerade einmal rund 33 Prozent. Die SPD trifft es noch härter, bei knapp 20 Prozent macht der rote Balken Halt. Die Grünen sind stärker als erwartet, die FDP schafft deutlich den Wiedereinzug, die Linken verfehlen das Ziel, drittstärkste Kraft zu werden und dann kommt ein Balken, auf den wohl doch alle Bürgerinnen und Bürger gewartet haben, die AfD landet bei rund 13 Prozent. Die nächste Aussage: die Wahlbeteiligung ist gestiegen. Gut 75 Prozent aller Wahlbeteiligten haben ihre Stimmen abgegeben. Das ist positiv, denn auch wenn nach wie vor ein Viertel aller Deutschen nicht wählen möchte, ist eine steigende Wahlbeteiligung immer gut.

Doch da sind wir sofort beim ersten Punkt, der dieses Wahlergebnis von anderen abhebt. Eine steigende Wahlbeteiligung war in der Vergangenheit eigentlich immer positiv für die großen Parteien und/oder die regierenden Parteien. Bei der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag war dies anders. Von der steigenden Wahlbeteiligung haben die kleinen Parteien profitiert. Am meisten die AfD, die über eine Millionen vorige Nichtwähler für sich gewinnen konnte. Danach dann auch die FDP, die fulminant in den Bundestag zurückkehrt. Die Wahlaufrufe haben also gefruchtet, das ist gut so. Aber sie haben für die großen Parteien nicht den gewünschten Effekt erzielt.

Womit wir schon bei einem weiteren Punkt sind, der sich durch das Wahljahr 2017 zieht. Steigende Wahlbeteiligung im Jahr 2017 bedeutet, dass oppositionelle Parteien oder Parteien, die Protestwähler an sich binden können, gestärkt aus Wahlen hervorgehen. Bei den Landtagswahlen im Frühjahr haben wir dies – mit Ausnahme des Saarlandes – bereits feststellen können. Wenn die Unzufriedenheit mit der Regierung hoch ist und gleichzeitig die Wahlbeteiligung steigt, dann wird es für die regierenden Parteien schwierig.

Ein nächster interessanter Aspekt sind sicherlich die Umfragen und Statistiken. Die Frage, ob die Demoskopie noch wirklich aussagefähige Ergebnisse liefern kann, hat man sich bereits nach der Wahl Donald Trumps oder nach dem Brexit gestellt. In Deutschland diskutiert man dies auch schon seit einiger Zeit, die Bundestagswahl stellt hier keine Ausnahme dar. Um hier direkt einmal eine Konsequenz für die Politik zu ziehen, gilt zu sagen, dass man als Partei, als Politiker das Ohr wieder näher am Bürger haben muss. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Mann, der 16 Jahre Kanzler war, nie auf die Demoskopie vertraut hat. Helmut Kohl hatte stets ein breites Netz an Verbindungen, bis in die kommunale Ebene hinein, um sich selbst ein Meinungsbild zu machen. Als er dieses Gespür verlor, verlor er auch die Kanzlerschaft. Nehmen wir die Verluste der Union und der SPD 2017 zusammen, muss die Konsequenz sein, aus einem gewissen Elfenbeinturm nun auszubrechen.

Gestern Abend – und damit wären wir beim vierten Analysepunkt – haben sich auch wieder altbewährte Muster gezeigt. Im Grunde hat niemand die Wahl verloren und alle anderen waren am jeweils eigenen Ergebnis schuld. So zumindest waren größtenteils die Aussagen führender Kräfte aller Parteien. Gerade auf linker Seite arbeitete man sich lieber am Ergebnis der AfD ab und machte durch die Blume „den unreflektierten Wähler“ für das Ergebnis verantwortlich. Die SPD versuchte abermals der Kanzlerin jedwede Schuld an „allem Übel“ zu geben und auch bei der CDU wartete man vergebens auf den Satz: „Wir haben ein desaströses Ergebnis eingefahren.“ Man deklarierte sich zum Wahlsieger – das ist nicht falsch, denn de facto hat man nun einmal die meisten Stimmen – und stieß moderate Töne an. Ja, am Wahlabend selbst ist kein Platz für ausufernde Analysen, ich hoffe jedoch, dass man dies ab heute tun wird. Positiv zu sehen ist, dass die Bundesvorsitzende und wohl auch weiterhin Kanzlerin, Angela Merkel, den Ruf verstanden hat und ankündigte, dass man nun auch über Kurskorrekturen nachdenken werde.
Doch trotz allem bleibt der fade Beigeschmack, dass man auch gestern keinen ehrlichen Umgang mit dem Wahlergebnis sehen konnte. Einzig Horst Seehofer schaffte es, reflektiert und ohne Blick auf andere Parteien darzulegen, dass dieses Ergebnis kein „Weiter so“ bedeuten kann.

Man muss einmal auf die Ergebnisse blicken. Die Union erzielt das schwächste Ergebnis, seitdem der Deutsche Bundestag gewählt wird, darin enthalten das schwächste CSU-Ergebnis seit 1953. Die SPD erzielt das schwächste Ergebnis, seitdem der Deutsche Bundestag gewählt wird. Die kleinen Parteien, die den Einzug in den Bundestag geschafft haben, erhalten zusammen über 41 Prozent der Stimmen. Interessanter Nebenaspekt ist übrigens, dass die NPD mit 0,38 Prozent aus der allgemeinen Parteienfinanzierung herausfallen würde. Die Wähler gibt es weiterhin und es ist sehr wahrscheinlich, dass diese größtenteils bei der AfD eine neue Heimat gefunden haben, aber wenigstens der allmähliche Niedergang dieser Partei zeichnet sich ab.
All das ist Ausdruck eines sich veränderten Systems. Künftig werden sechs Fraktionen im Bundestag vertreten sein, welche davon Regierung, welche davon Opposition sind, steht noch nicht endgültig fest, aber es zeichnen sich Tendenzen ab.

Denn – und damit kommen wir zum nächsten Punkt – die SPD hat eindeutig erklärt, nach diesem Wahlergebnis in die Opposition gehen zu wollen. Grundsätzlich verstehe ich den Ansatz. Einerseits aus parteitaktischen Gründen, denn wer als Regierungspartei auf knapp 20 Prozent Stimmenanteil kommt, der wurde abgewählt und dann ist es sicher besser, sich in der Opposition zu „erholen“ und neue Kräfte zu sammeln. Hier kann man – und da muss man der SPD-Führung Recht geben – zeigen, dass SPD und Union sich eben doch unterscheiden und damit es wirklich eine Wahl gibt, wenn man zwischen den beiden Volksparteien entscheidet. Andererseits ist auch klar, dass die Große Koalition einfach die unbeliebteste Konstellation bei den Bürgern ist. Sie ist nie mehr als ein Zweckbündnis und wenn es die Möglichkeit gibt, diese zu umgehen, muss man dies tun. Die SPD schafft mit ihrer Ankündigung die Grundlage hierfür.
Aber die frühe Ankündigung in die Opposition gehen zu wollen, birgt auch Risiken. Die einzig realistische Koalition hieße nun „Jamaika“. Ein Bündnis aus CDU/CSU, FDP und den Grünen. Wie sehr möglich dies in der Wirklichkeit ist, wird sich weisen. Doch was, wenn die Verhandlungen oder gar die Sondierungen hierzu scheitern? Gibt es dann etwa Neuwahlen? Ich möchte kein dunkles Bild zeichnen, aber Neuwahlen würden nur eines bedeuten, nämlich den noch rasanteren Anstieg des Wähleranteils für die AfD und wahrscheinlich dann auch wieder für die Linken, da beide Parteien dann erst Recht davon reden würden, dass die „etablierten Kräfte“ den Wählerwillen nicht respektieren. Es fallen einem gleich Vergleiche zur Weimarer Republik ein. Natürlich sind wir noch lange nicht so weit und sicher ist die Bundesrepublik grundsätzlich deutlich stabiler, aber Neuwahlen müssen um jeden Preis verhindert werden. Vielleicht aber, war es auch genau das Ziel der SPD. Sie haben die Union nun in die Enge getrieben. Es wird Zugeständnisse geben müssen. Entweder an FDP und Grüne oder dann doch wieder an die SPD, die bei einem möglichen Scheitern von Jamaika ihrer Verantwortung gegenüber des Staates nachkommen könnte und dann aber noch viel mehr als noch vor vier Jahren darauf pochen würde, eigene Inhalte umzusetzen. Der Union – die ja bereits eine Kurskorrektur ankündigte – würde diese also erschwert. Was taktisch aus der Sicht von allen an diesem Spiel beteiligten Parteien Sinn ergeben würde, würde – so fürchte ich – aber doch wieder dazu führen, dass weitere enttäuschte Unionsanhänger zu anderen Parteien abwandern.

Schauen wir uns noch kurz die Zusammensetzung des Bundestags an. Gerade geht es noch nicht ums Personal, aber um die schiere Größe. Nach dem vorläufigen Endergebnis werden 709 Abgeordnete in den Bundestag einziehen. Allein durch das bayerische Ergebnisse gibt es rund 100 Ausgleichsmandate. Es muss die Aufgabe des neuen Bundestags sein, eine Wahlreform zu beschließen, die eine solche Größe des Parlaments verhindert. Das mag ein langer Weg sein und das mag im ersten Moment nicht einfach werden, aber es muss Schluss sein, mit derartig hohen Zahlen an Überhang- und Ausgleichsmandaten. Ob es nun zum Grabenwahlsystem kommt oder ob man ein anderes Auszählverfahren wählt, sollte man im Detail besprechen. Es geht auch nicht um die grundsätzliche Änderung des personalisierten Verhältniswahlrechts, aber um die Anpassung eines Systems, das nach wie vor international als vorbildlich angesehen wird.

Uns stehen spannende Wochen und Monate bevor und die politische Kultur in Deutschland und im Bundestag wird eine andere sein, aber wenn sich alle Parteien nun einmal auf sich besinnen und man damit aufhört, auf andere zu schauen und über andere zu reden, kann diese Zäsur letztendlich auch dazu führen, dass das gute System, das wir haben, noch besser wird.